“Jeder, wie er will” – Warum ich offenen Erziehungskonzepten kritisch gegenüberstehe

Immer wieder gerne lese ich Artikel von Dr. Michael Winterhoff, deutscher Kinder- und Jugendpsychiater, dessen kritische Sichtweise zum Thema Kindererziehung einigen jungen Eltern und “Erziehungsexperten” heute missfällt. Ich meinerseits, die ich aus einer Lehrerfamilie stamme, selbst Lehrerin und Mutter von bald vier Kindern bin, muss sagen, dass ich den Ausführungen von Dr. Winterhoff – leider – zum größten Teil nur beipflichten kann. Seine Beobachtungen stimmen mit jenen überein, die ich selbst und alle Lehrer in meinem Umfeld über die Jahre erleben durften.

Als Reaktion auf den Artikel “Es wächst eine Generation unfreier Narzissten heran” möchte ich anhand einer kurzen Geschichte aus meinem Lehreralltag erklären, weshalb auch dieses Interview mit dem Kinderpsychiater meine Zweifel am derzeit herrschenden System weiter bestätigt.

Immer, wenn ich an bestimmten öffentlichen Kindergärten Bastelarbeiten am Plan hatte, wurde ich mit Argusaugen beobachtet. Schließlich war ich keine „interne“, keine die sich dem System anzupassen hatte, sondern frei arbeiten konnte. Und nachdem ich mich in puncto Kreatives Gestalten gerne austobe, kam ich nun mal häufig mit Ideen, für die alle Kinder sofort Feuer und Flamme waren. „So etwas will ich auch machen! Hilfst du mir dabei?“ „Aber klar doch! Komm, wir machen das gemeinsam!“, war als Mama von drei Kindern meine ganz natürliche Reaktion. Bis ich lernte, dass meine Herangehensweise nicht gern gesehen, ja regelrecht verpönt war.

Mehr als einmal wurde ich ermahnt, dass ich derartige Unterfangen in Zukunft zu unterlassen hätte. Die Kinder dürfen nicht nach einer Vorlage arbeiten, dürfen keine Anleitung oder Hilfestellung meinerseits erhalten. Jeder solle individuell werken, so gut er kann, und der Fantasie freien Lauf lassen. Ich für meinen Teil verstand nicht, wo das Problem lag. Wenn ich einem Kind eine Bastelei zeigte und es diese von sich aus kopieren wollte, was war falsch daran? Falsch fühlte es sich für mich an, sagen zu müssen: „Es tut mir leid, aber ich soll dir nicht helfen. Du darfst das jetzt ganz alleine machen“, und die anschließende Enttäuschung in den Augen der Kinder zu sehen. DAS tat weh.

Es gibt sie, die Kinder, die planlos und wild drauf los werken, blindlings in riesige Bögen Papier schnippeln und literweise Kleber und Glitter darauf schütten (auch das war mir persönlich ein Dorn im Auge, aber ich lernte, mich rauszuhalten), um dann stolz ihr wirklich fantasievolles Kunstwerk zu präsentieren. Das ist in Ordnung. Doch es gibt auch jene, die ausdrücklich nach Anleitung und Hilfe verlangen, weil sie wollen, dass etwas genauso aussieht wie die Vorlage. Immer, wenn ich nachhakte, wo denn das Problem wäre, wenn ich diese Hilfestellung bieten würde, bekam ich die gleiche Antwort: Das würde heute so nicht mehr ins Konzept passen. Kinder müssen sich frei entfalten und dafür alles selbst entscheiden, ohne Vorgaben, ohne Leitlinien, die ihnen etwas aufzwingen würden. Das Paradoxe daran: Dass ich all jenen, die unbedingt mit mir arbeiten wollten, eine Absage erteilen musste, und sie somit gezwungen waren ohne Anleitung zu werken, war anscheinend kein Zwang. Niemanden schien zu stören, dass diese Kinder der Lust und Möglichkeiten beraubt wurden, etwas Schönes zu schaffen. Eine ziemlich absurde Situation, die mich zweifeln lässt, ob die Verantwortlichen des Bildungssystems sich überhaupt bewusst sind, was ihr Konzept anrichtet. Wo bleibt der Hausverstand, der einen Mittelweg erlaubt (den ich übrigens sowohl als Mutter, als auch als Lehrerin stets einschlage)? Ich nehme keinem Kind die Fantasie oder hindere es in seiner freien Entwicklung, wenn ich ihm gewisse Rahmenbedingungen vorgebe. Aber ich hinterlasse mitunter planlose, frustrierte, ja teils rücksichtslose Kinder, wenn ich sämtliche Regeln und damit einhergehende Verantwortung ebendiesen aufbürde.